In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fanden in fast allen deutschen und österreichischen Städten Pogrome statt in denen Synagogen, Geschäfte und Wohnhäuser von jüdischen Bürgern und Bürgerinnen oder Menschen, die in der NS-Ideologie zu “Juden” gemacht wurden, niederbrannten. Zahlreiche Jüdinnen und Juden wurden ermordet oder festgenommen und misshandelt. Auch in Wuppertal kam es zu jenen organisierten Gewaltausbrüchen, die auch nicht vor Privatwohnungen halt machten. Die Synagogen in Elberfeld und Barmen brannten komplett aus. Erst 2002 wurde in Wuppertal Barmen eine neue Synagoge errichtet. In allen Städten beteiligten sich hunderte Bürgerinnen und Bürger an den von der SA begonnenen Zerstörungen und Plünderungen. Dies war nur ein vorläufiger Höhepunkte des Antisemitismus in Deutschland, welcher später in dem Versuch der Auslöschung des gesamten europäischen Judentums endete.
Mit der Reichspogromnacht wurde deutlich, dass die Bevölkerung die NS-Politik gegen Menschen, die als jüdisch eingeordnet wurden mittrug. Da nicht nur der Ausschluss aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, sondern auch offene Gewalttaten gesellschaftlich akzeptiert wurden, konnte die antisemitische und rassistische Politik der NationalsozialistInnen gegen Juden radikalisiert werden. Schon zuvor gab es zahlreiche rechtliche und gesellschaftspolitische Maßnahmen, die für einen größtmöglichen Ausschluss sorgen sollten. 1933 wurde von der NSDAP zu ersten Boykottaktionen jüdischer Geschäfte aufgerufen. Anschließend wurden jüdische Kinder und Jugendliche aus deutschen Schulen und Universitäten gezielt entfernt, da diese angeblich überfüllt waren. Die meisten Maßnahmen wurden mit einer Bedrohung des deutschen Volkes durch das “Weltjudentum” begründet. So führte “der Jude” in dem von Verschwörungsdenken durchzogenem Weltbild der Nationalsozialist_innen angeblich durch “die Presse”, die in jüdischer Hand verortet wurde, einen Lügenfeldzug gegen das deutsche Volk. Daher wurde Juden und Jüdinnen auch die Arbeit in den Medien verboten. 1935 beschloss die NSDAP die “Reinhaltung deutschen Blutes” in den Nürnberger Rassengesetzen, nach denen “Juden” keinen Geschlechtsverkehr mit “Nicht-Juden” haben durften. Auf das Berufsverbot in der Medienlandschaft folgt der Ausschluss von Juden aus Ämtern, den Rechtsanwalts- und Ärztekammern und vielen anderen Berufsgruppen. Zudem wurden Juden sozial diffamiert wo und wie es nur ging. Es gab “Judenfreie Wälder”, “Judenfreie Seebäder”, Ortseingangs-Schilder, auf denen stand, dass Juden nicht willkommen seien und allgegenwärtige verbale Angriffe.
Auch wenn heute bekannt ist, dass der Pogrom am 9. November von der NS-Führung inszeniert war, bleibt die kräftige Beihilfe der “ganz normalen” Bürger_innen von zentraler Bedeutung. In fast allen deutschen Städten griffen hunderte Menschen zu Steinen und Fackeln. Ohne sie hätten die Pogrome niemals jene Ausmaße annehmen können. Wohnungen und Geschäfte wurden von den unmittelbaren Nachbarn zerstört und geplündert. Mit den Pogromen setzte die deutsche Volksgemeinschaft, bei der Antisemitismus und Rassismus längst zu konstituierenden Elementen geworden waren, ein Zeichen. Ein Zeichen, dass es keinen Platz für jüdische Mitbürger_innen in dieser Volksgemeinschaft gab.
Aus Sicht der NS-Führung waren die Tage um den 9.November also nicht nur hinsichtlich der konkreten Zerstörung hunderter Synagogen ein Erfolg, sondern auch ein großer Erfolg ihrer antisemitischen Propaganda. Sie konnten resümieren: Das deutsche Volk legt sich gewaltbereit gegen Volksfeinde ins Zeug. Es war erkennbar geworden wie weit der Volksmob in seiner Zerstörungswut gehen würde, wenn es gegen Juden und Jüdinnen geht. Stimmen gegen die Gewalt gab es kaum und wenn, dann meist in Form von Empörung darüber, dass das geplünderte Gut nicht aufgeteilt, sondern zerstört wurde. Die NS-Presse schuf für die Ereignisse den zynischen Begriff “Reichskristallnacht”, um die Pogrome bei denen Menschen ermordet, ungefähr tausend Synagogen und Gemeindehäuser niedergebrannt und mehrere tausend Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden, zu verherrlichen. In den Tagen danach wurden ungefähr 30.000 als Juden definierte Menschen in Konzentrationslager verschleppt. Damit stellt der 9. November den Auftakt zur Shoa dar.
Es ist bezeichnend, dass der verharmlosende Begriff “Reichskristallnacht” noch heute eine gängige Bezeichnung für den 9. November ist. Dabei rühmen sich die Deutschen damit Aufarbeitungsweltmeister zu sein. Was das allerdings genau bedeutet ist fraglich. Wenn mit Aufarbeitung gemeint ist, jedes Jahr an drei Tagen die immer gleichen Gedenkreden zu halten, mag Deutschland wirklich Aufarbeitungsweltmeister sein. Auch im Fernsehprogramm laufen wiederkehrend an Tagen wie dem 9. November oder dem 8. Mai Beiträge zum “dunkelsten Kapitel Deutschlands”. Doch das wie von einem Tape abgespulte Faktenwissen und Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus – und noch mehr über den 2. Weltkrieg –, täuscht darüber hinweg, dass all dies am Kern des Problems vorbeigeht: Einer Analyse und Kritik der Ideologie der deutschen Volksgemeinschaft. Ohne eine solche verfehlt die Aufarbeitung ihr eigentliches Ziel. Nämlich, dass sich das Geschehen niemals wiederholt. In abgeschwächter und transformierter Form sorgte das vor allem auf Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Volkgemeinschaft beruhende Weltbild der Nazis auch nach der „Wiedervereinigung“ für hunderte Tote und Pogrome wie z.B. in Rostock-Lichtenhagen nicht nur durch organisierte Nazis, sondern auch durch den Mob der “anständigen Deutschen”.
Doch die deutsche Gedenkpolitik ignoriert nicht nur die Grundlagen der NS-Ideologie, sondern verfolgt gänzlich andere Ziele. Das Bedauern gilt nicht primär den Opfern der Shoa, sondern der deutschen Nation und den Deutschen, die unter der deutschen Geschichte und dem Schicksal nicht unverkrampft stolz auf ihre Nation sein zu können, leiden. So wird auch häufig “allen Opfern von Faschismus und Krieg” gedacht – also gleichermaßen den im KZ Ermordeten und den mordenden Wehrmachtssoldaten. Diese fehlenden Unterscheidung von Täter_innen und Opfern wird beim Gedenken an die “Bombennächte” auf die Spitze getrieben. Dort wird der Spieß umgedreht und aus der Bevölkerung, die am 9. November 1938 die Scheiben von “jüdischen Geschäften” einwarf, wird nicht selten ein unschuldiges Opfer “des Krieges”.
Diese Denkweise bietet auch große Anknüpfungspunkte für Neonazis. Ebendiese versuchen immer offensiver nicht nur geschichtsrevisionistische Positionen, sondern klassische NS-Symboliken auf die Straße zu tragen. Ein ausgebliebener Skandal stellt z.B. die Kundgebung der NPD Essen am 9.November 2010 in Essen-Borbeck dar, trugen doch die Neonazis bei der Veranstaltung NPD-Fahnen und Fackeln. Die Verhöhnung der Opfer der Reichspogromnacht ist schon durch die bloße Anwesenheit der Neonazis vollkommen. Doch setzt es dem Ganzen die Krone auf, dass Neonazis am 9.November mit brennenden Fackeln auf einem öffentlichen Platz stehen konnten und jeder und jedem klar war, dass die Fackeln symbolisch für die brennenden Synagogen getragen wurden.
Da der Antisemitismus der deutschen Bevölkerung nicht von der NS-Führung aufgezwungen wurde, sondern die Vernichtung des europäischen Judentums von der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde, verschwand der Antisemitismus auch nicht mit der Kapitulation Deutschlands. Auch heute noch sind Rassismus und Antisemitismus alltäglich präsent. Daher darf das Gedenken an die Opfer der Shoa kein Lippenbekenntnis sein, sondern muss dafür Kämpfen den Schwur von Buchenwald endlich zu erfüllen: Den Faschismus an seinen Wurzeln – also auch seine ideologischen Grundlagen – zu vernichten.
Gegen Nazis, Volksgemeinschaft und Geschichtsrevisionismus!
Nie wieder Deutschland!