Am 03. Oktober 2015 sind in Hamm ungefähr tausend Demonstrant*innen unter dem Motto “Das Problem heißt Rassismus” auf die Straße gegangen, um am Jahrestag der deutschen Einheit gegen den von der Partei „Die Rechte“ organisierten Neonazi-Aufmarsch zu protestieren. Mit etwas Distanz und einer weiteren verabschiedeten Asylrechtsverschärfung stellt sich die Frage: Was bleibt?
In der medialen Berichterstattung wird immer wieder betont, die heutige Situation sei – trotz erschreckender Parallelen – nicht mit der Situation in den 1990er Jahren gleichzusetzen. In der Tat scheint Deutschland 25 Jahre nach der Wiedervereinigung wieder einmal geteilt: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich voll Stolz auf Volk und Nation beziehen und ihr kleines Paradies Deutschland mit niemandem teilen wollen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die sich voll Stolz auf Volk und Nation beziehen, weil in Deutschland noch nicht dieselben Zustände wie in Ungarn unter Orbán herrschen.
Es ist wahr: Die Bilder wie in Dortmund oder München hunderte Bürger*innen die Geflüchteten der TrainsOfHope willkommen hießen, sendeten ein Signal der Hoffnung um die Welt.
Genauso wahr ist allerdings, dass Deutschland am 13. September wieder Grenzkontrollen eingeführt hat. Dies wurde nachträglich von der EU-Kommission abgesegnet, da angeblich eine “ernsthafte Bedrohung” für die innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung bestehe. Die Bedrohung für die innere Sicherheit stellen also diejenigen dar, die in der Hoffnung auf ein bessere Leben nach Deutschland kommen, nicht das – frei nach Sigmar ‘Schleuserbomber’ Gabriel – deutsche Pack der geistigen und wortwörtlichen Brandstifter*innen, die in deutschester Tradition wieder einmal Mord und Totschlag herbeisehnen.
Es ist traurige Realität, dass in Deutschland beinahe wöchentlich Flüchtlingsunterkünfte brennen und es außerdem statistisch gesehen täglich zu rassistischen Übergriffen auf Geflüchtete kommt.
In Sachsen will der rassistische Mob am liebsten die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen wiederholen. In Westdeutschland attackieren türkische Faschist*innen kurdische Einrichtungen und Demonstrant*innen und in Köln fällt OB Kandidatin Reker beinahe einem Fememord zum Opfer –
im gesellschaftlichen Klima der Unentschlossenheit etabliert sich mörderischer brauner Terror wieder einmal als Normalzustand. Ein Großteil der Zivilbevölkerung scheint mit dem offenen Auftreten gewaltbereiter Neonazis, gerade auch in Schulterschluss mit den konformistischen Rebell*innen von Pegida, Endgame und Co. – Resultat des gesellschaftlichen Rollbacks, der Schlusstrichmentalität und des ‘gesunden’ Sommermärchen-Deutschtums – völlig überfordert. Statt entschlossen gegen rechten Terror und die menschenverachtende Brutalität deutscher Asylpolitik vorzugehen, übt man sich im falschen Verständnis von Toleranz, signalisiert Dialogbereitschaft und macht rechtsradikale Hetze damit hoffähig.
25 Jahre nach der Wiedervereinigung mag die Parole ‘Nie Wieder Deutschland’ geradezu zynisch klingen: Längst ist Deutschland wieder wer und hat sich in der andauernden internationalen Wirtschaftskrise zum „schwäbischen Hausfrauen“-Hegemon Europas aufgeschwungen. Doch wahr ist und bleibt: Emanzipatorische Politik muss sich sowohl gegen den offenen Terror auf der Straße, gegen Nadelstreifen-Rassist*innen und ‘Man wird ja noch sagen dürfen…’ – Schnullernazis als auch die menschenverachtende Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU stellen. Im Kampf um einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten kann Deutschland deshalb kein Verbündeter sein.
Du mieses Stück Scheiße!
Die jüngsten Gesetzesänderungen verdeutlichen dies einmal mehr. Sie richten sich zunächst einmal vor allem an die überforderten Länder und Kommunen. Durch Soforthilfen vom Bund soll die Unterbringung und Verpflegung Geflüchteter sichergestellt werden.
Darüber hinaus sollen die Vereinfachung von Abschiebeprozessen und die Beschleunigung von Abschiebeverfahren zur Entlastung beitragen. Mit der lästigen Judikative wird sich die Bundespolizei dabei fortan noch weniger herumschlagen müssen. Für die Betroffenen bedeutet dies in Zukunft: kein Gerichtsprozess, keine Vorwarnung. Wenn die, auf 3 Monate halbierte, erlaubte Aufenthaltsdauer nach einem abgelehnten Antrag verstrichen ist, kann es für Geflüchtete zu jeder Tages- und Nachtzeit zurück ins – potentiell tödliche – Elend gehen. Dass diese Praxis häufig ganze Familien auseinander reißt, schert dabei scheinbar niemanden. Genauso wohlwollend wird in Kauf genommen, dass bürokratische Fehler, die das beschleunigte Verfahren geradezu zwangsläufig mit sich bringen wird, von nun an irreversible Fakten schaffen werden: Sind die Betroffenen zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens eines Fehlers aufgrund der verkürzten Aufenthaltszeit längst nicht mehr im Land, kann auch niemand mehr dagegen klagen. Well played, Germany.
Wenig anders verhält es sich in puncto „sichere Drittstaaten“: Was Afghanistan noch werden soll, gilt seit neuestem bereits für Kosovo, Montenegro und Albanien. Der absurde Beschluss, ein Land wie Kosovo, in dem noch ca. 5000 KFOR Soldaten stationiert sind, als ‘sicher’ zu klassifizieren, verdeutlicht lediglich den Zynismus der gesamten Asylpolitik. Diese Entscheidung hat fatale Folgen für Flüchtende, denen dadurch nichtzuletzt eine weitere wichtige Fluchtroute nach Zentral- und Nordeuropa genommen wird.
Menschen, die aus diesen Ländern stammen, wird die Migration nach Deutschland letzten Endes unmöglich gemacht, sollten sie nicht bereits eine konkrete Berufsperspektive in Aussicht haben. Auch hier macht die deutsche Bundesregierung keinen Hehl aus ihren Prioritäten: Schon bei der Antragstellung soll in lukrative, ‘verwertbare’ Migrant*innen und „illegale Wirtschaftsflüchtlinge“ unterschieden werden, wobei nur Erstere überhaupt Hoffnung auf einen Neuanfang im Biergarten Eden hegen dürfen.
Wir haben viel zu viel, um euch was abzugeben!
Die Regierung sorgt nicht nur dafür, dass Asylsuchende in Zukunft schneller und ohne Vorwarnungen abgeschoben werden können, sondern will diese in der Zeit davor auch noch stärker erniedrigen als die deutschen Behörden es ohnehin schon tun. So soll es in Zukunft wieder Sachleistungen statt Taschengeld geben, eine Praxis, die so paternalistisch wie unpraktikabel ist und darüberhinaus droht die minimalen Verbesserungen des Asylbewerberleistungsgesetzes zu negieren, die erst Anfang diesen Jahres auf Druck des Bundesverfassungsgericht verabschiedet wurden. Während sich Deutschland also kollektiv für den Umgang mit Geflüchteten selbst mit Lob überhäuft, entzieht es im gleichen Moment selbigen noch die letzten Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Thomas DeMaizière nennt dies „Fehlanreize beseitigen, die dazu führen, dass viele Menschen nach Deutschland kommen und sich falsche Hoffnungen machen.” Besser hätte DeMaizière die Unmenschlichkeit des auf Abschreckung ausgelegten deutschen Verwaltungsapparates wirklich nicht ausdrücken können.
Gute Miene zum sozialdemokratischen Spiel
Thomas DeMaizière war es auch, der den neuen Antrag im Bundestag vorgestellt hat. Getragen wurde die Asylrechtsverschärfung letztlich jedoch von allen Parteien im Bundestag mit Ausnahme der Partei Die Linke. Während sich die Grünen enthielten, stellte sich die SPD in der Plenarsitzung beinahe einstimmig hinter den Antrag. Rassist*innen zu hofieren, deren Inhalte in Gesetzesparagrafen mit zu verpacken und sich danach auf die humanitäre Schulter zu klopfen, das scheint ganz der neue Chic der Sozialdemokrat*innen zu sein.
In Bezug auf Hamm stellt man fest, dass sich Michael Thews (Bundestagsabgeordneter für Hamm) auf seiner Homepage, wie zu erwarten, nur positiv auf das “Gesamtkonzept zur Asyl- und Flüchtlingspolitik” bezieht. Auf die neue Gesetzesänderung wird in diesem Artikel nicht eingegangen. Lediglich die Summe der Soforthilfe, welche die Kommunen im Zuge des Konzeptes erhalten sollen, scheint von Interesse für den Abgeordneten. Verwunderlich ist dies nicht, würde es doch seinem Image schaden, wenn er lobende Worte für eine menschenverachtende Politik fände, welche er selbst unterstützt. Um seine Reputation aufzubessern, scheute er auch nicht davor zurück, auf der „Refugees Welcome“-Demo am 03.Oktober in Hamm in der ersten Reihe – gut sichtbar für alle Kameras – ein Fronttransparent mit der Aufschrift „Rassismus entgegentreten“ mitzutragen.
Da die Demonstration ohnehin nur einen kurzen Image-Zwischenstopp für den Abgeordneten darstellte, sollte es eigentlich auch nicht verblüffen, dass dieser ein paar Minuten später an einer Sitzblockade, welche sich gegen den zeitgleich stattfindenden Neonazi Aufmarsch richtete, kommentarlos vorbeiging, um bloß nicht die Abfahrt seines Zuges zu verpassen.
Wenn es um Publicity geht, kennt Thews anscheinend ohnehin keinen Scham. So besucht er bei der Aktion “Willkommen bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge” zum Beispiel geflüchtete Familien, um ihnen kleine Präsente zu übergeben – natürlich nicht ohne sich mit ihnen auf einem Foto für seine Homepage ablichten zu lassen. Es strotzt vor Zynismus und Heuchelei, wenn derselbe Mensch nicht mal einen Monat später jenes menschenverachtende Gesetzespaket unterstützt, in dem Asylsuchende kriminalisiert und der Zugang nach Deutschland mit Aussicht auf Bleiberecht um ein weiteres Stück erschwert wird. Genau so widerwärtig wie zynisch ist sein durchweg positives Résumé, in dem er das Gesetzespaket als “gewaltigen Schritt nach vorn” beschreibt. Ein gewaltiger Schritt für ihn, für die Menschheit leider gar keiner…
Jedoch ist Michael Thews mit diesem Verhalten gewiss nicht allein, sondern reiht sich in die Traditionslinie vorangegangener Kandidat*innen der SPD in Hamm, so z.B. Dieter Wiefelspütz (MdB 1987 – 2015). Dieser hatte unter anderem den „Asylkompromiss“ Anfang der 90er Jahre mitbeschlossen. Auch Marc Herter (Landtagsabgeordneter aus Hamm) versteht sich als Vertreter von Meinungsfreiheit und Vielfalt – und hielt Anfang Oktober neben Thews in der ersten Reihe das antirassistische Transparent in die Kameras. Dass sein Image ebenso falsch ist wie Thews’, bewies er 2014 eindrucksvoll: Während in seinem Beisein Demonstrant*innen von der Polizei wegen einer Sitzblockade niedergeknüppelt wurden, drehte er dem ganzen Geschehen desinteressiert den Rücken zu. Auf die Frage warum er nichts dagegen unternähme, antwortete er sinngemäß, er würde nichts Unrechtes beobachten.
…und dann auch noch Religion
Dass religiöse Zusammenschlüsse genauso wenig wie Parteien Bündnispartner*innen für emanzipatorische Arbeit sein können, zeigte sich erneut auf der diesjährigen Demonstration am 03.Oktober. In einem während der Eröffnung der Demo vom Christlich-Islamischen Gesprächskreis Bockum-Hoevel abgehaltenen Redebeitrag wurde u.a. dazu aufgerufen, „den Verführern dieser Welt“ zu trotzen.
Kritik wegen mindestens strukturellem Antisemitismus und einem grundsätzlichen Missverständnis gesellschaftlicher Funktionsweisen scheint hier deutlich angebracht, lässt eine solche Aussage doch auf ein Weltbild schließen, in dem eine kleine, elitäre & allmächtige Gruppe („die Verführer“) die Geschicke der Massen lenkt. Ganz traditionell bedient sich eine solche Logik der nationalsozialistischen Rhetorik der jüdischen Weltverschwörung, selbst wenn kein konkreter Bezug auf Jüdinnen und Juden genommen wird. Ob es so etwas wie “Verführer der Welt” überhaupt gibt, ist dabei nur insofern relevant, als ohne deren Existenz das ganze Weltbild der Antisemiten nicht mehr funktionieren würde. Dass es für solch einen strukturellen Antisemitismus in der christlich-manichäistische Weltanschauung Anknüpfungspunkte gibt, steht außer Frage, ist diese doch von Grund auf binär gehalten, das heißt streng in ‘gut’ und ‘böse’, in Gott und den Teufel, Gläubige und Sünder, Mann und Frau, Verführer und Verführte unterteilt. Wird diese Denkweise auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen, ist das höchst gefährlich: anstatt zu versuchen, Probleme durch Analyse von Gesellschaftsstrukturen zu erkennen und beizukommen, wird auf ein verkürztes und vereinfachtes Erklärungsmodell zurückgegriffen, in dem alles „böse“ auf eine konstruierte und imaginierte Gruppe projeziert wird: „die Verführer“, „die Juden“, was auch immer. Eine Welt, deren Komplexität man nicht habhaft werden kann, lässt sich so sehr leicht erklären – mit der Realität hat das allerdings nichts zu tun.
Gerade in Bezug auf Neonazis, Rechtsextreme und Rassist*innen erinnert die Terminologie des Verführers zudem an den Mythos der verführten Deutschen. Willige Täter werden damit im Nachhinein exkulpiert: Die deutsche Bevölkerung trifft keine Schuld mehr an Vernichtungskrieg und Shoah, da sie nur Opfer war, Opfer des großen Verführers Hitler. Damit reiht sich dieser Mythos in die Liste der mehr als bedenklichen Forderungen nach einem „Schlussstrich“ unter der deutschen Geschichte ein.
“Trotzt den Verführern dieser Welt” – eine solch aufgeladene Wendung auf einer antifaschistischen und antirassistischen Demonstration von sich zu geben, zeugt nicht nur von strukturell antisemitischen Tendenzen und einer gehörigen Portion Weltfremdheit, sondern vor allem auch von einem generellen Unverständnis gegenüber gesamtgesellschaftlichem Rassismus.
Deutsche Rassist*innen mussten nie und müssen auch heute nicht verführt werden.
Was bleibt?
Angesichts dieser Situationen bleibt die ernüchternde Antwort auf die Eingangsfrage: Es ist auszuschließen, dass die Demonstration am 03.10. in Hamm bei dem größtenteils bürgerlichen Publikum einen Denkprozess oder eine Sensibilisierung hinsichtlich der gesellschaftlichen Realitäten angestoßen hat. Die selbstdarstellerische Heuchelei der Politiker*innen und das vollkommene Unverständnis der eigentlichen Demoinhalte seitens der Parteien, religiösen Gruppen und bürgerlichen Akteure, machen die Beantwortung der Frage, wem man den nun zuerst ins Gesicht spucken möchte, alles andere als einfach. Die Erkenntnis, das nur eine radikale emanzipatorische Politik eine verlässliche Bündnispartnerin ist, ist so wenig neu wie optimistisch stimmend. Von ihrer Notwendigkeit konnten wir uns jedoch ein weiteres Mal überzeugen…
Am 24. Oktober 2015 traten die neuesten Asylrechtsverschärfungen in Kraft. Allen positiven Entwicklungen in der Zivilbevölkerung und allem ehrenamtlichen Engagement für Geflüchtete zum Trotz, DAS ist die gesellschaftliche Realität in Kaltland, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung. Deutschland, du mieses Stück Scheiße.