Antifaschismus geht nur ohne Staat Verfassungsschutz auflösen – Rassismus bekämpfen!

Im November 2012 jährt sich das Bekanntwerden der über sieben Jahre andauernden Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) um Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt, welche ungehindert von Sicherheitsbehörden zehn Menschen ermorden und mindestens zwei Bombenanschläge verüben konnten. Fast täglich werden neue Details über die Verstrickungen der Geheimdienste mit dem NSU und seinem Unterstützer_innen-Netzwerk sowie über die rassistischen Praktiken der Polizei bekannt. Das tatsächliche Ausmaß des Beziehungsgeflechtes zwischen Staat und Neonazis ist bis heute noch nicht abzusehen. Es wird gelogen, verschwiegen und vertuscht.
Doch auch wenn das öffentliche Interesse zurzeit immens ist, so bleibt der Ruf nach wirklichen Konsequenzen aus. Als antifaschistische Linke treten wir nicht für eine Reform des Verfassungsschutzes ein. Wir wollen vielmehr zusammen mit Anderen eine grundsätzliche Kritik an den Behörden und den gesellschaftlichen Bedingungen formulieren, die den NSU ermöglicht haben. Eine Demonstration gegen den Verfassungsschutz stellt dabei vielleicht erst den Beginn eines solchen Prozesses dar. Eine Forderung, die als Konsequenz aus den Vorgängen um den NSU erwächst, liegt jedoch schon jetzt auf der Hand: Verfassungsschutz auflösen!

Verfassungsschutz und NSU

Die Fakten sind weithin bekannt: Die politische Sozialisation des NSU erfolgte in den neona-zistischen Milieus der 1990er-Jahre in Thüringen, die sich verfestigen konnten, ohne nachhaltige Sanktionierungen fürchten zu müssen. Quasi unter dem Blick der Behörden machten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ab 1998 in der Illegalität weiter. Unterstützung erhielten sie aus den Kameradschaftsstrukturen des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS), mit denen sie sich an Aktionen der Naziszene beteiligt hatten. Im THS waren bis zu 40 Personen als V-Leute tätig, die dem Verfassungsschutz für Bares Bericht erstatteten. Über den V-Mann Tino Brandt, Kopf des THS, wurde offensichtlich versucht, Gelder an die terroristische Struktur weiterzuleiten. Ein anderer V-Mann, der in den Diensten des Berliner LKA stand, hatte dem NSU Sprengstoff übergeben. Und offenbar waren die Geheimdienste dem NSU immer wieder dichter auf der Spur als man es zunächst für möglich gehalten hatte: Als 2006 Halit Yozgat in Kassel erschossen wurde, war ein Mitarbeiter des VS (bekannt als „Klein Adolf“) am Tatort. Diese Liste ließe sich noch lange weiter führen. Öffentlich wurde jedoch verkündet, dass es Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik nicht gebe. Wie tief die Verstrickung des Verfassungsschutzes wirklich ging, wird wohl nie zweifelsfrei geklärt werden können. Denn die Geheimdienste tun alles dafür, eine Aufklärung zu verhindern. Akten werden geschreddert, der Untersuchungsausschuss belogen, Informationen werden zurückgehalten. Was sich allerdings definitiv sagen lässt: Es gibt wohl kaum eine neonazistische Organisation, in der nicht V-Leute für diverse Geheimdienste tätig waren. Dies führte jedoch nicht zu nennenswerten Maßnahmen oder zur Enttarnung des NSU. Vielmehr handelte es sich schlicht um eine staatliche Alimentierung für Neonazis, die ohne diese Gelder ihre Strukturen in der Form nicht hätten ausbauen können.

Rassistische Ermittlungen der Polizei

Auch die Polizei tat alles dafür, dass die Taten des NSU nicht aufgeklärt werden konnten. Bei fast allen Anschlägen und Morden wurden rassistische Hintergründe von Anfang an negiert, obwohl die Angehörigen der Opfer immer wieder auf ein solches Motiv verwiesen hatten. Die Ermittler_innen waren fest davon überzeugt, es mit migrantischen Täter_innen im Bereich Schutzgelderpressung und organisierter Kriminalität zu tun zu haben. Nach dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004, bei dem 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, schlossen der damaligen Innenminister Otto Schily (SPD) und sein NRW-Kollege und Parteifreund Fritz Behrens einen „fremdenfeindlichen Hintergrund“ sogleich kategorisch aus. Stattdessen ließen die Behörden die Telefone der Opfer und ihrer Angehörigen abhören, setzten verdeckte Ermittler_innen ein, und luden die Anwohner_innen immer wieder zu Verhören vor. So standen die Betroffenen jahrelang unter dem Verdacht, selbst schuld daran gewesen zu sein, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden waren.
Nach dem Mord an İsmail Yaşar am 5. Juni 2005 in Nürnberg hatten Zeugen zwei Männer auf Fahrrädern gesehen. Es gab ein Phantombild, das große Ähnlichkeiten mit dem 2004 in Köln erstellten Bild aufwies. Ein möglicher Zusammenhang wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Einige Monate nach dem Anschlag tauchte in einer Kölner Straßenbahn ein Flugblatt auf, das gegen die Bewohner_innen der Keupstraße hetzte, den Anschlag als „Zeichen von Protest“ bezeichnete und mit den Worten „Deutsche wehrt Euch!“ endete. Dieses eindeutig rassistische Flugblatt verschwand mit dem Vermerk in den Akten, dass es sich auch um eine linke Veröffentlichung handeln könnte. Einer Spur in der Schweiz, wo ein Waffenhändler offenbar das Modell verkauft hatte, mit dem der NSU später die Morde beging, wurde gleichermaßen nicht nachgegangen, weil hinter den Täter_innen „Ausländer“ vermutet wurden.
Alle Hinweise, die auf ein rassistisches Tatmotiv deuteten, wurden nicht verfolgt bzw. wurden diejenigen zurückgepfiffen, die das tun wollten. Dabei handelt es sich nicht um eine Serie von Versäumnissen, reine Blindheit oder Ignoranz. Vielmehr steckt dahinter ein Apparat, der Kriminalität zuerst bei den als „fremd“ definierten Menschen vermutet und dabei weit verbreiteten rassistischen Deutungsmustern folgt.

Verfassungsschutz und der Kampf gegen Links

Genauso wenig wie bei der Polizei kann das Agieren des Verfassungsschutzes allein mit Informationsdefiziten, Inkompetenzen oder Schlampereien erklärt werden. Die Kumpanei mit Neonazis rührt aus einer autoritären undemokratischen Behörde mit einem entsprechend strukturierten Beamtenapparat.
Zum Ersten lässt sich dies mit historischen Kontinuitäten des Inlandsgeheimdienstes begründen, dessen Aufbau maßgeblich von ehemaligen Gestapo-Beamten und anderen Nazis mit betrieben wurde. Ihren Auftrag sahen die Staatsdiener dementsprechend vornehmlich in der Abwehr einer Gefahr von Links. Zum Zweiten war in Zeiten des Ost-West-Gegensatzes den Geheimdiensten nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, so gut wie jedes Mittel recht. Dazu gehörten die Finanzierung, Ausrüstung und Ausbildung rechtsterroristischer Gruppen. Diese führten beispielsweise Bombenanschläge durch, die dann linken Gruppen in die Schuhe geschoben wurden, um so die „antikommunistische Stimmung“ weiter aufzuheizen. Trauriger Höhepunkt dieser „Strategie der Spannung“ war der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna im August 1980, bei dem 85 Menschen starben. Keine zwei Monate später verloren beim Oktoberfest-Attentat, dem schwersten Terroranschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte, 13 Menschen ihr Leben. Auch bei diesem von Neonazis durchgeführten Anschlag gibt es deutliche Hinweise, dass Geheimdienste und Sicherheitsbehörden von der Tat gewusst haben, wenn nicht sogar an der Planung beteiligt waren. Aktuelle Beispiele, wie die offene Zusammenarbeit zwischen Sicherheitsorganen und militanten Neofaschist_innen in Griechenland, zeigen zudem, wie im Zeichen schwerer wirtschaftlicher und sozialer Krisen solche Allianzen schnell an Bedeutung gewinnen können.
Zum Dritten ist die Ausrichtung der Geheimdienste aber auch jenseits dieser historischen Perspektive auf den Kalten Krieg inhaltlich vorgegeben: Aufgabe eines jeden Geheimdienstes ist es, Macht- und Herrschaftsstrukturen zu sichern. In einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft sind diese vornehmlich von denjenigen bedroht, die bestehende Eigentumsverhältnisse und das ökonomische System als Ganzes in Frage stellen, sprich: Die radikale Linke. Neonazis werden hingegen erst dann als Gefahr ausgemacht, wenn das Image Deutschlands bei Investoren leidet und der Standort bedroht ist.

Verfassungsschutz und Rassismus als gesellschaftliches Problem

All das aber reicht als Erklärung noch nicht aus. Entscheidend ist, dass sich in den Behörden das in die bundesdeutschen gesellschaftliche Strukturen eingewobene Denken widerspiegelt: die Hierarchisierung verschiedener Gruppen anhand ethnischer Trennlinien, die Ausgrenzungen, die ungleiche Verteilung von Rechten und die weite Verbreitung rassistischer und nationalistischer Einstellungsmuster. So wurde den als „Türken“ wahrgenommenen Opfern und Angehörigen der NSU-Verbrechen beispielsweise wie selbstverständlich ein kriminelles Verhalten zugeschrieben, eben weil der Verdacht bestand, dass sie als Migrant_innen zu Kriminalität neigten. Ihren Ausdruck findet diese Diskriminierung in Bezeichnungen wie „SOKO Bosporus“ oder dem durch Polizeikreise kolportierten und von den Medien aufgenommenen Begriff der „Döner-Morde“. Die „Blindheit“ und „Ignoranz“, die im Fall des NSU zutage traten, sind also nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern ein gesellschaftliches Problem.
Selbstkritisch müssen wir uns aber auch fragen, ob sich diese Trennlinien nicht ebenso in der vielerorts ausbleibenden zivilgesellschaftlichen Empörung nach Bekanntwerden der NSU-Morde oder mangelnden Solidarisierungsversuchen auch auf Seiten der Antifa gezeigt haben. So gab es in etlichen Orten schon vor November 2011 Demonstrationen oder andere Initiativen, die vornehmlich von den Opfern, ihren Unterstützer_innen und/oder migrantischen Communities ausgingen. Eine Solidarität der (immer noch „herkunftsdeutsch“ geprägten) Antifa blieb weitgehend aus.

Staatliche Reaktion
Als Konsequenz aus dem NSU geben Politik und Behörden nun ein „striktes Vorgehen gegen Rechts“ vor: Bei der Polizei wurden Sonderkommissionen eingerichtet, gegen das Aktionsbüro Mittelrhein (Rheinland-Pfalz) leitete die Staatsanwaltschaft ein § 129-Verfahren ein, das auch Kölner Neonazis betraf. Die Kameradschaft Köln wurde verboten, es folgten Razzien und Verbote des Nationalen Widerstand Dortmund (NWDO), der Kameradschaft Hamm und der Kameradschaft Aachener Land (KAL). Reichlich spät, denn die Angriffe auf Linke und Anderen, die nicht in das Weltbild von KAL oder NWDO passten, wurden zuvor jahrelang ignoriert oder verharmlost.
Schon im Dezember 2011 nahm in Köln und in Meckenheim ein Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) seine Arbeit auf, das den Austausch zwischen polizeilichen und nachrichtendienstlichen Stellen aus Bund und Ländern verbessern soll. Wenige Monate später wurde die Verbunddatei Rechtsextremismus auf den Weg gebracht.
Dieses öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzte staatliche Handeln geschieht jedoch weiterhin auf der Folie der Extremismusdoktrin. Dieser Logik zufolge wird eine angeblich demokratische Mitte durch einen „Rechtsextremismus“, einen „Linksextremismus“ und einen „Ausländerextremismus“ bedroht. Trotz NSU betreibt man nach diesem Muster weiter Politik. Einen aktuellen Höhepunkt stellt die „Vermisst“-Kampagne des Innenministeriums dar, die im Stil von Vermisstenanzeigen vor der Gefahr warnt, dass Muslime „an religiöse Fanatiker und Terrorgruppen“ verloren gehen. Entsprechende Postkarten wurden kartonweise dort verteilt, wo der NSU 22 Menschen verletzt und viele weitere traumatisiert hatte: auf der Keupstraße in Köln-Mülheim. Vermisst würden vor allem Sensibilität und die Bereitschaft zur Aufklärung der NSU-Taten, so empörte Kritiker_innen der Kampagne. Erneut werde Muslim_innen pauschal unterstellt, mit dem Islamismus zu sympathisieren.
Antifaschistische Gruppen werden durch eine Gleichsetzung mit Neonazis nicht nur ideologisch diskreditiert; sie verspüren den Repressionsdruck gleichsam praktisch. Das konnten wir in den letzten Monaten in Köln-Kalk bei Demonstrationen gegen Rechts erleben, die von einem riesigen Polizeiaufgebot verhindert wurden, oder in Münster, wo auf Gegendemonstrant_innen eingeprügelt wurde. Oder auch beim Antifa-Camp in Dortmund, das – trotz Zusammenarbeit der Veranstalter_innen mit Stadt und Behörden – kurzerhand verboten wurde. Das alles zeigt: Mit diesem Staat ist kein Antifaschismus zu machen.

Gesellschaftliche Verhältnisse aufbrechen

In Köln haben das Bundesamt für Verfassungsschutz wie auch der Militärische Abschirm-dienst (MAD) ihren Sitz. Jene Einrichtungen, welche die Offenlegung aller Informationen über den NSU und seine Beziehungen zu V-Leuten verweigern und eine Strategie des Verheimlichens, Vertuschens und Verleugnens verfolgen.
Uns kann es nicht darum gehen, dass die „Pannen“ im System Verfassungsschutz behoben werden und die Behörde reformiert wird, so dass sie ein wenig besser funktioniert. Der Umgang mit dem NSU ist keine Panne im System, es ist vielmehr das System, das versagt – was nun immer offensichtlicher wird. Ein Ausruhen auf einem „haben wir doch schon immer gewusst“ oder einer ständigen Wiederholung eines „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“ kann jedoch nicht unser Ziel sein.
Nun bietet sich die Möglichkeit, es nicht bei einem radikalen Gestus zu belassen, sondern diesen in politisches Handeln zu übersetzen. In den Grundsatzdokumenten vieler radikaler linker Gruppen und Projekten ist die Forderung nach Auflösung der Geheimdienste schon immer verankert. Neu ist, dass diese Forderung auch Unterstützung aus Kreisen von Parlamentarier_innen und Gewerkschafter_innen bis ins bürgerliche Spektrum hinein findet. Wir bleiben aber nicht stehen bei der Kritik an einer einzelnen Behörde. Wenn wir als Linke handlungs- und wirkmächtig werden wollen, sollten wir – gemeinsam mit unseren Bündnispartner_innen – die Auflösung aller Geheimdienste anstreben. Diese Forderung ist auf der einen Seite zwar umsetzbar, auf der anderen Seite aber auch richtungsweisend für eine weiterführende linksradikale Perspektive. Denn die Organisation eines Staates ohne geheimdienstliche Aktivitäten ist schwer denkbar. „Verfassungsschutz auflösen“ kann also bedeuten, gesellschaftliche Widersprüche sichtbar zu machen und Perspektiven auf gesellschaftliche Veränderungen zu geben. Dies kann nicht von heute auf morgen geschehen, sondern ist ein ergebnisoffener Prozess, den wir gemeinsam mit anderen politischen Kräften vorantreiben müssen. Unsere Forderungen mit einer Demonstration nach außen zu tragen, ist für uns ein erster, aber wichtiger Schritt.
Köln ist die Stadt, in der in den Jahren 2001 und 2004 Bombenanschläge durch den NSU verübt wurden. Und Köln ist auch die Stadt, in der die rassistischen Ermittlungen der Polizei die Opfer und ihre Angehörigen (wie in anderen Städten auch) ein zweites Mal zu Opfern machten. Viele Gründe auf die Straße zu gehen und unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Wir wollen nicht einen reformierten Verfassungsschutz, sondern überhaupt keinen Geheimdienst. Wir wollen nicht die Polizei etwas weniger rassistisch machen, sondern die rassistischen Verhältnisse überwinden.

Für einen öffentlichen Zugang zu allen Informationen zum Fall NSU!
Solidarität mit den NSU-Opfern und ihren Angehörigen!
Entschädigung der Betroffenen für die diffamierenden polizeilichen Ermittlungen!

Verfassungsschutz auflösen – Rassismus bekämpfen!

10. November 2012, Köln-Chorweiler, Pariser Platz, 14 Uhr

Weitere Infos unter: vs-aufloesen.de und antifa-koeln.net